Tag 77-78 / 30.06.-01.07.2013

Unsere nächste Station: Varanasi. Da wir kein direktes Ticket
von Agra nach Varansi bekommen haben, fahren wir am späten Nachmittag mit einem
Tuk Tuk in das ca. 30 km entfernte Tundla. Die Fahrt läuft wider Erwarten
reibungslos, sodass wir früh dran sind als wir gegen 18 Uhr am Bahnhof in
Tundla ankommen; unser Zug startet um 20.18 Uhr.

Wir setzen uns an einen Taxistand und warten mit Genehmigung
der Taxifahrer dort. Wieso Taxistand? Ganz einfach, der einzige Ort im Umkreis
des Bahnhofs, an dem sich nicht allzu viele Tiere aufhalten und der Gestank nach
Müll, verdorbenem Essen, Urin und anderen menschlichen und tierischen
Ausscheidungen nicht erdrückend ist. Außerdem ist der gesamte Bahnhof von
Menschen überfüllt. Die, die keinen Platz auf einem der wenigen Bänke bekommen
haben, sitzen auf dem Boden – und das sind viele. Schwer zu sagen, ob die
vielen Menschen hier warten oder hier leben.

Nach ca. 30 Minuten kommt ein porter zu uns und meint unser
Zug werde ausfallen. „Ja klar“, denken wir, „mal wieder so ein plumper Trick…“.
Der porter lässt sich von uns aber nicht abwimmeln, ist ziemlich hartnäckig,
sodass wir widerwillig mit ihm zur Anzeigetafel gehen. Und er hat leider Recht.
Hinter unserem Zug steht „CANCELED“. Wir, total genervt, fragen den porter, wie
wir jetzt nach Varansi kommen, schließlich haben wir dort übermorgen eine
Weiterfahrt nach Kolkata, wo wir unseren Flug nach Bangkok bekommen möchten.

Der Ort Tundla ist so klein, dass es hier am Bahnhof keinen
Touristenschalter gibt. Das ist für uns ein Problem, weil die Inder hinter den
„normalen“ Ticketschaltern uns entweder nicht verstehen oder nicht verstehen
wollen. Der porter bringt uns an der
Schlange vorbei durch die Hintertür in das ticket office und hilft beim
Übersetzen. Wir erfahren, dass es keinen Grund gibt, warum unser Zug ausfällt,
es ist einfach so. Es gibt wohl einen Zug um 22.20 Uhr, der ebenfalls nach
Varanasi fährt, aber man könne uns nicht sagen, ob es dort noch zwei freie
Plätze in der zweiten Klasse mit a/c gibt… Außerdem müssten wir erst unser
Ticket umschreiben lassen, falls wir diesen Zug nehmen wollten, dafür müssten
wir zum Ticket Officer. Aha…

Unser porter bringt uns also weiter in das Büro des ticket
officers, das direkt am Bahnsteig ist. Auch hier: der ticket officer kann oder
will kein Wort Englisch können. Er spricht mit dem porter auf Hindi und immer
wieder fangen alle Anwesenden im Raum an zu lachen und schauen uns an. Was ist
hier eigentlich los? Andy und ich fühlen uns verarscht. Andy fragt, was los ist,
wir würden auch gern mitlachen. Der porter übersetzt nach einer Weile, dass der
ticket officer das Ticket nicht umschreiben kann, hierfür müssten wir zum Chief
Ticket Officer. -.- Andy und der porter
verschwinden also für eine Weile ins Büros des Chief Ticket Officers, während
ich mit unserem Gepäck in dem booking office warte. Es sind insgesamt drei Männer und zwei kleine
Mädchen anwesend. Während die Mädchen mich beschämt anlächeln, sprechen die Männer
offensichtlich über mich, schauen immer wieder an mir hoch und wieder runter
und sagen mir ständig, ich solle doch meinen Rucksack abnehmen und mich
hinsetzen. Mein wiederholtes „It´s okay, I´m fine.“ hilft wenig.

Andys Sicht der Dinge: Was geschah im Büro des Chief Ticket
Officers?

Unter anderem wurde eine Ratte gefüttert. Aber das war wohl
eher die Nebenhandlung. Als der porter und ich dort ankamen hat der CTO gerade
telefoniert. Auf seinem Schreibtisch standen 4 Telefone. Eines davon hatte
lediglich eine oder zwei Tasten, eine Art Direktleitung zu irgendjemandem.
Vielleicht dem indischen Präsidenten oder einem Guru? Wie auch immer. Als der
CTO aufhört zu telefonieren, schildert der porter auf Hindi, was unser Problem
ist. Der CTO reagiert wenig interessiert. Als ich ihn auf Englisch anspreche
und frage, wie unsere Optionen aussehen, erklärt er mir, dass es zwei
Möglichkeiten gibt: Entweder wir lassen uns das Geld erstatten und versuchen
ein neues Ticket zu buchen oder er schreibt unser Ticket um und wir warten zwei
Stunden auf einen der nächsten Züge nach Varanasi. Ich frage ihn mehrmals, ob
wir einen Platz im A/C-Abteil zweiter Klasse bekommen. Ich versuche bisschen
psychischen Druck aufzubauen, indem ich sage, dass ich mit meiner Frau reise
und sie Knieprobleme hat – außerdem ist sie schwanger (Scherz smiley). Er sagt, es sei
möglich. Vielleicht aber auch nicht. Mal sehen. Es kommt auf den Schaffner an.
Aber es müsste klappen. Ich versichere mich mehrmals, wie das Ganze ablaufen
soll. Er sagt, der porter wird sich darum kümmern. Ich solle dem porter und dem
Schaffner ein wenig Bakschisch, Schmiergeld, geben. Ich frage nach, wie viel?
Er sagt „ahhh, 200 Ruppies müssten okay sein“. Die Ratte läuft während des
Gesprächs unzählige Male von links nach rechts durch den Raum. Ich bin zwar
erschöpft, aber noch geht es. Ich sage ihm, er solle das Ticket umschreiben und
sage ihm zum Abschied, dass ich hoffe, dass alles so läuft wie er es mir
versichert. Auch, wenn er mir nichts versichert hat. smiley

Der Porter und ich verlassen das Büro und ich hole noch kurz
Geld. Nicht zu viel, damit ich nicht zu viel Schmiergeld geben kann. Als ich
zurück zu Sonia komme, steht sie da und wartet darauf, dass ich ihr erzähle,
was jetzt passiert. Wir gehen in den Warteraum für Frauen der ersten Klasse und
warten auf den Zug. Hier sind zwar keine Männer, die Sonia ständig anstarren,
aber der Geruch nach Pisse ist so stark, dass wir in den Warteraum mit Männern
wechseln. Auch hier im Warteraum hat uns eine Ratte kurz besucht… Es ist
unglaublich warm, ach was heiß! Während wir warten, hoffen wir einfach nur,
dass wir Liegeplätze in der zweiten Klasse bekommen. Denn wenn nicht, haben wir
ein Problem. Die ganze Nacht im Sitzen im unklimatisierten Wagon kommt nicht in
Frage. Und eine Übernachtfahrt in der Sleeper Class kommt auch nicht in Frage.
Das ist die Klasse, für die unbegrenzt viele Tickets verkauft werden, jeder,
der mitfahren will, ist willkommen. Das heißt, im Zweifel nicht nur stehen, sondern
halb aus dem Wagon raushängen, weil es so voll ist. Und das ist kein Scherz.

Gegen 21:30 ist es so weit, unser porter holt uns ab. Wir
gehen zum Gleis, wo wir auf viele Ratten, Obdachlose und wartende Reisende
treffen, wobei Letztere beiden manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Der Zug verspätet sich, sodass wir im Endeffekt mindestens noch 40 Minuten am
Gleis warten. Als der Zug endlich eintrifft, ist die Anspannung groß. Wenn wir
keinen Platz im Zug bekommen, brauchen wir einen Platz zum Schlafen. Ich weiß
nicht, ob wir die Nacht auf diesem Bahnhof verbringen können, egal darüber
machen wir uns Gedanken, wenn wir wirklich müssen. Also erst mal warten, was
der Schaffner sagt. Der Porter diskutiert mit dem Schaffner und es sieht nicht
gut aus. Der Schaffner ignoriert ihn. Wir haben keine Ahnung, was der Porter
ihm sagt. Irgendwann kommt das okay und der Porter zeigt uns unsere Plätze.
Zweite Klasse A/C – sehr gut. Der Porter sagt, der Schaffner bekommt 500
Ruppies. Ich bin zu müde und angestrengt, um wegen 3 Euro zu handeln. Ich sage
okay und gebe ihm die 500. Danach will ich ihm 100 Ruppies für seine Dienste
geben. Er sagt, seine Rate wäre 300 Ruppies. Auch wenn ich erschöpft bin, ist
mir das dann doch zu dreist. Vor allem, weil er nicht die Macht des Schaffners
hat. Er ist weg, sobald der Zug losfährt. Ich gebe ihm 220 Rupies und sage ich
brauche den Rest, weil es mein letztes Geld ist. Er gibt sich mehr oder weniger
zufrieden und wir beziehen unsere Plätze. In dem Abteil sind vier Betten und
die anderen beiden werden von einem deutschen Mann und seiner Tochter belegt.
Als der Zug anfährt, sind wir einfach nur froh und erleichtert, dass wir jetzt
abschalten können. Varanasi, wir kommen!

SP & AP